Logbuch

OBDACHLOS.  

Wenn eine Sache beschönigt wird, sprechen wir von einem EUPHEMISMUS; eine „frohe Vorbedeutung“ soll entstehen. Sanfte Lügen. Die Engländer sind darin besonders gut. Wenn jemand auf der Straße leben muss, weil ihm kein Dach mehr über dem Kopf gewährt wird, sprechen sie davon, dass er „rau schlafe“: SLEEPING ROUGH. Obdachlose gehören zum Alltagsbild großer Städte, in denen sie Nischen bevölkern, die ihnen ein Überleben ermöglichen.

Ja, vieles ist eine Plage. Ob der Drogenkonsum die Ursache des Elends ist oder ein Versuch dieses Schicksal erträglich zu machen, darüber will ich nicht richten. Viele dieser Menschen, so lese ich in einer amerikanischen Studie, haben eine von Missbrauch gekennzeichnete Kindheit hinter sich; auch darüber will ich mir kein Urteil erlauben. Wenn das nur Junkie-Prosa ist, nehme ich es halt als Metapher an. Es kann nicht leicht sein, ohne Heimat oder „Überdach“ (althochdeutsch obadach), also schutzlos, zu überleben.

Ich habe eine österliche Anregung. Nicht nur, dass man sein Wechselgeld spendiert. Das ist ja eh klar. Oder zumindest als Geste die karitativen Einrichtungen stützt (ich fördere in Berlin eine medizinische Ambulanz für Nichtsesshafte). Mein Vorschlag ist: Schauen Sie dem Bettler ins Gesicht. Ja, wir sehen nämlich alle weg. Weil es uns selbst peinlich ist, nicht um den Obdachlosen zu schützen. Wir wollen unsere englischen Teenerven schonen, nicht den abgerissenen Hobo. Schauen Sie der zerlumpten Frau ins Gesicht, wenn Sie ihr den Euro geben oder eben verweigern.

Sagt man im Angesicht des Elends auch NEIN? Na klar. Ich habe es nicht gern, wenn die Bittenden dazu Kinder einsetzen oder ich das Gefühl habe, dass das Geld an der nächsten Ecke in einem rumänischen Mercedes abgeliefert wird. Aber das sind Ausnahmen und schlechte Ausreden dafür, dass man dem Elend nicht ins Gesicht schauen will.

„Denn die einen sind im Dunkeln /
Und die andern sind im Licht./
Und man siehet die im Licht /
Die im Dunkeln sieht man nicht.“ /
So das Finale zum Dreigroschenfilm des großen Bert Brecht, der ein sehr nüchternes Bild vom Handwerk des Bettelns hatte. Egal, schauen wir hin.

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DAS DEUTSCHE WESEN.

Ich lese kursorisch eine Geschichte der Deutschen von 1500 bis heute; sprich, ich blättere den Schinken eines englischen Historikers durch. Dabei sitze ich in der Kantine des British Museum in Bloomsbury, London. Hier sind die Eibrote mit Kresse „on white“ einfach hervorragend. Wann immer ich in der Stadt bin, gönne ich mir die. Die Geschichte der Germanen („germans“) also. Die gibt es seit Tacitus, jedenfalls seit Karl dem Großen.

Der greise Geschichtsprofessor müht sich an hunderten von Beispielen ab, um den Nachweis zu erbringen, dass die in England geschmähten Hunnen so einmalig böse nicht waren. Das ist angesichts des Axioms von der Einmaligkeit des Holocaust kein so ganz einfaches Unterfangen. Ich werde als Deutscher da nichts verharmlosen; für mich gilt das Brecht-Wort: „Andere mögen von ihrer Schande reden, ich rede von meiner.“ Wenn das gesagt ist und gilt, darf man den Blick weiten.

Der Faschismus ist eine italienische Erfindung, er hatte eigenständige Nachahmer in England und blieb in Spanien und Portugal länger erhalten als manchem klar. Einiges von dem, was ich jüngst in Polen erlebt habe und in Ungarn noch erlebe, erinnert an ihn. Ich sage das aber mit Vorsicht, weil die braune Karte auch jenen innenpolitischen Falschspielern locker im Ärmel sitzt, denen ich nicht traue. Nicht jeder, der vor dem Teufel warnt, ist reinen Herzens.

Ich wandere nach dem Lunch durch‘s Haus und bleibe vor einer Tonscherbe stehen, die fünftausend Jahre alt ist und eine Geschichte erzählt, die ich aus der Bibel kenne. Es geht um eine klimatische Apokalypse, die die damaligen Götter bewirkt haben sollen, eine Sintflut, vor der man sich in einem Kahn zu retten suchte. Ich lasse jetzt mal die Frage offen, wie all diese Schätze hier nach London kamen, denn das ist, wie Kipling sagt, eine andere Geschichte.

Meine Überlegung ist schlichter: Warum hat der große Regen den Ton der Scherbe nicht aufgeschwemmt? Nun, das Wasser fürchtend brannte den Babylonischen ihre Stadt ab, was den Ton der Scherbe härtete, so dass er heute noch vom Logbuch des damaligen Klimapolitikers im Irak zeugen kann. Und die Geschichte von Jona im Alten Testament ist damit schlicht ein Plagiat.

So belehrt verlasse ich den Tempel des britischen Kolonialismus und freue mich auf ein Bier in der gegenüberliegenden „Museums Tavern“, an deren Tresen schon der deutsche Exilant Karl Marx stand. Ich bestelle ein zweites; wir tun dies ihm zum Gedächtnis.

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ARBEITSDIREKTOR.

In der Montanindustrie (Kohle, Erz, Eisen & Stahl) galt der Personalvorstand etwas, zumal er die weitgehende Montanmitbestimmung zu handhaben hatte. Er war für das Betriebsklima verantwortlich, was zu ganz wesentlichen Teilen die Beziehung zu den Arbeitnehmervertretern ist, heute gemäß Betriebsverfassungsgesetz. Eine wichtige Aufgabe im Spagat zwischen Unternehmensstrategie der Eigner und gewerkschaftlicher Organisationsfreiheit der Arbeitnehmer. Kein leichter Job.

Ich persönlich habe einige legendäre ARBEITSDIREKTOREN kennengelernt. Und einige weniger nennenswerte. Namen werde ich hier nicht nennen oder Episoden. Eines der heutzutage besonders begabten Exemplare war gar mal mein Mitarbeiter. Ein anderer ein Kumpel, sprich Freund, und einst Personalvorstand der Bahn. Jetzt Schluss mit dem „name dropping“; es geht mir um ein wirtschaftstheoretisches Problem. Wir reden über „liberalen Korporativismus“.

Uff. Wir reden damit über eine Entscheidungsfindung am Verhandlungstisch, die eine Drittschädigung überflüssig macht. Man kann das SOZIALPARTNERSCHAFT nennen. Die Drittschädigung trifft zumeist Kunden, die eine Leistung, für die sie bezahlt haben, nicht mehr erhalten. Betrug. Ganze Volkswirtschaften können zur Geisel genommen werden. Ganze Betriebe in der Reputation regelrecht ruiniert. Die Dinge sind sicher übertrieben, wenn sie staatlich autoritär werden, wie man es historisch aus faschistischen Staaten kennt, aber bis dahin ist ein sehr weiter Weg. Eigentlich geht es um Tarifautonomie. Es geht um liberale Wirtschaftspolitik.

Jetzt also die Bahn. Mir gefällt der Herr mit dem Hitlerbart nicht, der notorisch seinen Laden in toto schlecht redet. Völlig irritiert bin ich aber über das glatzköpfige Arbeitsdirektörchen, das in die TV-Kamera sagt, man habe bis morgens um fünf verhandelt. Echt jetzt? Und der liberale Eigner im Bundesverkehrsministerium hat Gelegenheit, Statur zuzulegen. Das Stichwort heißt liberaler Korporativismus. Ich grüße derweil von der Autobahn.

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Die Vierte Gewalt macht vor nichts halt

Das Konzil tagt, der Kongress tanzt. Zur jährlichen Tagung des Journalistenvereinigung namens „Netzwerk Recherche“ reisen die Spitzen der schreibenden Zunft nach Hamburg, wo der NDR auf seinem Kombinatsgelände im  Norden der Stadt den professionellen Disputen der notorischen Aufklärer Raum bietet. Man kann hier sehen, wie der nachkriegsbeseelte Geist der englischen Besatzer von einer deutschen BBC in einem Kombinats-Konstrukt untergebracht ist, das Erich Mielke erdacht zu haben scheint. Der über Gebühren zwangsfinanzierte Gigant ziert sich einmal im Jahr mit den investigativen Exoten, weil sie eben jene Idee vertreten, die er tagtäglich mit Füßen tritt. Ein Weißwäscherkongress. Aber das ist, wie Kipling sagt, ein anderes Thema.

Das Netzwerk selbst versteht sich als Vereinigung des Investigativen unter den Journalisten, also der creme de la creme. Der unverwüstliche Kuno Haberbusch bringt hier 300 Referenten auf die Bühne und junge Journalisten können bestaunen, wie die Idole ihrer jugendlichen Berufswahl in die Jahre gekommen sind. Günter Wallraff, der RTL-erprobte Dieter Bohlen der Camouflage-Reportage, ist da. Aber auch seriöse Rechercheure wie das Paradigma Georg Mascolo oder Altmeister Hans Leyendecker. Sascha Lobo, sagt er mir im Zug nach Hamburg, hat diesmal leider einen anderen Termin.

Ich freue mich auf Steffen Grimberg, den man in der taz so sehr vermisst, und darf Ulrike, die sichtbar abgenommen hat und ganz besonders bezaubernd aussieht, begrüßen. Ein BBC-Kollege verrät im Fußballtrikot referierend von der Bühne geheimdienstliche Tricks. Man hört englische und amerikanische Töne auf dem Pausenhof. Für einen Nachmittags riecht der NDR nicht nach diesem Kleinbürgermief kenntnisfreien Besserwissertums, sondern nach großer Welt. Ich fahr gern hierhin. Es lohnt sich immer, und ich empfinde meine Teilnahme wie eine Art Klassentreffen. Nur einer fehlte, stelle ich nachsinnend fest, John Locke.

Man diskutiert über „aktivistischen Journalismus“. Das ist das Engagement von Journalisten für ein gesellschaftspolitisches Ziel, das sie in ihrer Arbeit unter allen Umständen befördern wollen. Für eine Natur ohne Gene und eine Welt ohne Atome, zum Bespiel. Ich kenne so etwas aus der Innensicht. In Niedersachsen etwa gibt es eine Bürgerinitiative, die sich bei freien Redakteuren des örtlichen NDR per Mail Beiträge mit gezielter Polemik regelrecht bestellt, die dies auch dann liefern, wenn sie anschließend vor Gericht genau dafür eine Klatsche kriegen. Hallo Niedersachsen! Die Redakteure verstehen sich als Aktivisten und haben selbst für erheblichen Dehnungen der Wahrheit keine Scheu, wenn es denn der guten Sache dient.

Der BILD-Kritiker Stefan Niggemeier findet es ganz OK, wenn er versucht in Gesetzgebungsprozesse einzugreifen, weil es ja seiner Gesinnung entspricht. Interessant ist der Wortlaut, in dem die ideologische Fixierung begründet wird: „Ich habe mir das ja vorher recherchiert.“ sagt er. Man kann Recherche grammatisch also reflexiv gebrauchen. Ich recherchiere mir was. Und damit ist legitimiert, dass ich als Journalist Einfluss zu nehmen gedenke auf die Legislative. Seine Unabhängigkeit zeige sich darin, dass er sich nicht von Google habe bezahlen lassen. Das glaube ich. Bestechlichkeit ist hier weder Tugend noch Praxis, jedenfalls Bestechlichkeit durch Geld. Ideologische Korrumpierbarkeit steht auf einem anderen Blatt.

Das Podium wie der Saal sind bedrückt über die Nähe dessen, was sich hier als Journalismus formuliert, zu einer ganz anderen Disziplin, den Public Relations. Und natürlich ist aktivistischer Journalismus für mich nichts anderes als verdecktes PR. Das aber ist den hier Versammelten der Beelzebub. Ein liebenswerter Kolleg aus der Schweiz macht in der Diskussion um den Aktivisten als Journalisten einen begrifflichen Vorschlag. Man solle doch von „anwaltlichem Journalismus“ reden. Damit ist die Büchse der Pandorra auf. Das ist dann für jedermann nichts anderes als die verhassten PR. Der Veranstalter hat aber in seinem Grundgesetz festgehalten: Journalisten machen kein PR. Ups!

Woher kommt die moralische Hybris der Investigativen? Nun, Pressefreiheit ist ein Verfassungsinstitut. Das beziehen die Damen und Herren auf sich selbst als Personen. Die Investigativen halten sich für eine Vierte Gewalt im Staat. Das legitimiert dann auch die Grenzüberschreitungen, die sie in der Recherche zu begehen bereit sind. Die Vierte Gewalt maßt sich völlig selbstverständlich auch Befugnissen der ersten drei Gewalten an. Legal, illegal, scheißegal, jedenfalls wenn es der guten Sache dient, die man sich zurecht recherchiert hat. Und darum sage ich, beim Netzwerk Recherche waren viele kluge Köpfe, aber John Locke fehlte. Reden wir also über die Trennung der Staatsgewalten, geheimhin Gewaltenteilung genannt.

Der aufgeklärte Staat,vulgo Demokratie, trennt die gesetzgebende Gewalt von der rechtsprechenden und beide von der vollziehenden. Legislative, Judikative und Exekutive gehören nicht in eine Hand. Nicht mal in die einer ominösen Vierten Gewalt. Was für die Staatsorgane gilt, muss für selbsternannte Verfassungsinstitute ja wohl zweimal gelten. Presse ist kein sakrosankter vordemokratischer Raum, der irgendwelche Vorrechte genießt. Der Aufklärungsphilosoph Locke, dessen Geist die Amerikanische Verfassung mitgeschrieben hat, redet von zwei weiteren Gewalten, die unser Schulwissen etwas aus den Augen verloren hat, der föderativen und der prärogativen Gewalt.

Das Föderative betrifft die Außenpolitik und damit die Fragen von Krieg und Frieden. Man denke an Tony Blairs Entschluss, die USA bei dem Angriff auf den Irak zu begleiten, in dem nicht vorhandene Massenvernichtungswaffen ausgeschaltet werden sollten. Oder an Putins Entscheidung, mit der widerrechtlichen Annektion der Krim seiner Mittelmeerflotte einen Hafen zu sichern. Aber auch für die Außenpolitik gilt die demokratische Bindung: sie ist eine Staatsmacht „deriving their just powers from the consent of the governed.“ Und wenn die Regierten nicht überzeugt sind, dann ist eben nix mit Krieg. Aber das ist, wie Kipling sagt, eine andere Geschichte.

Wir waren bei den angeblichen Vorrechten der Presse, insbesondere der investigativen. Unter der Prärogativen versteht Locke das Recht des Staates gelegentlich die Ärmel aufzukrempeln und auch ohne legale Verankerung in Notsituationen zu handeln: legal, illegal, scheißegal. Die Älteren unter uns erinnern die deutsche Debatte um die Notstandsgesetze. Ironischerweise ist dieses Konzept der prärogativen Vorrechte genau das, was der investigative Journalismus für sich in Anspruch nimmt. Man hat Vorrechte als Journaille. Der Zweck heiligt die Mittel. Und den Zweck, den kann man sich ja recherchieren. Eine Natur ohne Gene, eine Welt ohne Atome, zum Beispiel.

Quelle: starke-meinungen.de

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