Logbuch
WIENER KEIN WÜRSTCHEN.
Man wähle Geschenke mit Bedacht. Weihnachtsgeschenke können das Leben des Beschenkten ändern. Es lastet also in diesen Tagen ein gewisse Verantwortung auf uns, die wir für Kinder oder Enkel das Christkind zu spielen haben.
Ich hatte nicht das, was man eine schwere Jugend nennt, im Gegenteil; aber in der gerade aufgeworfenen Frage doch gemischte Erfahrungen. Meine Eltern legten einen STABIL-BAUKASTEN unter den Baum, mit dem ich rein gar nichts anzufangen wusste. Das waren Metallplättchen, die man zu großartigen Gefährten zusammenschrauben sollte. Der Hersteller namens Walther aus Neukölln drohte damit, dass man so zum Ingenieur werde. Ich brachte es mit dem Zeug zu meinem ersten großen Versagen und meinen bildungsbeflissenen Eltern Kummer.
Das wurde anders mit dem Geschenk eines Folgejahres. Von der Firma Kosmos stand der RADIOMANN unter‘m Baum. Motto: „Vom Gebirg zum Ozean, alles hört der Radiomann.“ Ich baute mir ein Detektorradio und lernte, was ein Halbleiter ist. Das half im Studium bei der Rezeption von Kybernetik; das wiederum legte mir die Systemtheorie vor die Füße und lässt mich heute wissen, wovon die IT-Idioten faseln. Wer eine Diode versteht und den Transistor, den beeindruckt keine KI. So einfach ist das.
Übrigens gab es in der DDR eine intensivere Rezeption der amerikanischen Kybernetik als im Westen; und die Bücher waren billiger, ich tauschte sie gegen Kaffee und Nougat. So bin ich dann auch an meine Blauen Bände gekommen. Aber das ist, wie Kipling sagt, eine andere Geschichte. Für uns, die Kybernetiker, war Wiener jedenfalls kein Würstchen. Was lernt uns das? Man wähle Kindergeschenke mit Bedacht.
Logbuch
KITSCH AS KITSCH CAN.
Wir müssen reden. Über Weihnachtsbeleuchtungen. Ich bin gestern im Dunklen in mein Dorf gekommen und sie waren an, die Festtagsilluminationen. Zaghafte, wie dereinst die Kerzen im Fenster, mittlere, wie der kleine Tannenbaum erleuchtet im Vorgarten, und monströse. Ganze Häuser in grellbunter Verzierung, Krippen wie Gartenhäuser, Rehlein, Schlitten, Nikoläuse und jedweder Coca-Cola-Kitsch.
Damit ist das Stichwort gefallen. Lauter, vulgärer Kitsch, wo Kunst sein sollte. Die Vorfreude auf eine STILLE NACHT brüllt in ordinärem Neon und tausend Chinalichtern. Der brave Adventskranz mit vier Wachskerzen schaut als Zeuge einer vergangenen Zeit auf endlose Ketten kleiner Birnchen. Bethlehem als asiatisches Geflimmer. Wo es doch, wenn ich das erwähnen darf, um eine Geburt unter ärmlichsten Bedingungen geht; es fehlten Wochenbett, Windel und Wiege.
Womit wir bei einer interessanten Diskussion sind. Was ist noch Kunst? Und was schon Kitsch? In der mittelalterlichen Verehrung der „Jungfrau“ Maria, der Mutter des Religionsstifters, gibt es einen regelrechten Exzess an Süßlichkeiten, die nicht nur für protestantische Augen kitschig wirkten. Vielleicht ist der ganze Mythos um die UNBEFLECKTE eine Ausgeburt der sogenannten Volksreligiosität, die dem Wort des Evangeliums nicht standhält, aber ich will keine religiösen Gefühle verletzen. Jeder nach seiner Facon.
Wenn nun aber die populären Altare flimmern wie Bordelltüren, so mag man doch von Kitsch sprechen. Der Begriff hat aber immer eine eigene Arroganz. Hier urteilt die jeweils herrschende Kunst über ihre triviale Schwester. Die soziale Frage schwingt immer mit. Wer sich kein NOTRE DAME leisten kann, der hat halt ein Reh mit Schlitten vor der Tür zu flimmern. Man sei also nachsichtig. Obwohl… es tut an den Augen weh.
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SPREZZATURA.
Man muss schon umtriebig sein, um alle Plattformen zu kennen, auf denen im Internet kommuniziert wird. Da die Plattformen selbst Echokammern ihrer Nutzer sind, also Nutzerneigung vorwegnehmen in der Auswahl der Gesprächspartner oder der Beiträge, gestalten sie die Blase zur Welt. Hinzukommt, dass die Verleger dieses virtuellen Universums darüber entscheiden, was Priorität hat. Ob das verdeckt geschieht oder prinzipiell erkundbar, ändert nichts daran, dass ein Klima der Vertrautheit entsteht. Universalität als pure Suggestion.
Das ist das erste Problem der Plattform, ihr punktförmiger Horizont. Das zweite ist der Wandel vom Text zum Film. Es wird nicht mehr lutherisch gedichtet („Das Wort sie sollen lassen staan.“), sondern audiovisuell kommuniziert, Filmchen sind die vorherrschende Form. Aus der Predigt von der Kanzel wird eine Folge von Werbespots. Dabei gibt es einen notorischen Überhang an Nebensächlichem; man schaut den Vortragenden eben auch auf Bluse oder Hose, was viele Menschen zu einer gewissen Zeigefreudigkeit verleitet. Aber auch das nicht der Kern des Problems der Ticktockisierung.
Der Knackpunkt liegt in der neuen Erzählform der Filmchen; es ist die EPISODE. Was da in wenigen Sekunden inszeniert wird, muss komisch sein. Aus Esprit wird Witz. Das Paradigma der Pointe. Die wahre Weltherrschaft des Ticktock liegt in diesem Zwang zum Episodischen. Die Philosophen unter uns wissen, was das Problem mit der „episodischen Evidenz“ ist. Wir alle wissen, dass das Leben nicht nur aus Witzchen besteht. Und leiden darunter von aufgereizten Menschen mit einem Zwang zur Anekdote gelangweilt zu werden. Die eigentliche Verzerrung dieser Welt liegt in der Manie zur Episode.
Dem widerstehen wir hier mit KONVERSATION. Man sollte Gedanken nachgehen, Ideen verfolgen, Schlüsse ziehen und verwerfen. Sich selbst nicht wichtig nehmen, den Spiegel verhängen. Für den Italiener in uns oder die Freunde der Renaissance: sprezzatura!
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BARMHERZIGKEIT.
Ich kann von dem Berliner Krankenhaus namens BARMHERZIGKEIT nicht reden, ohne dass mich eine gewisse Sentimentalität angeht. Der sterbende Bertolt Brecht hat hier sein letztes Gedicht geschrieben, das an Größe nicht zu übertreffen ist.
Heute ist die gelernte Bettenburg der DDR eine moderne Klinik, schon organisatorisch ein Meisterwerk; ich darf das sagen, weil ich drei Jahrzehnte in der deutschen Industrie verbracht habe und weiß, wie Missmanagement geht. Man riecht das nach einiger Zeit und sieht es schon an Details. Ich höre stets am Ton der Domestiken, ob die Herrschaft was taugt.
Also, ich bedanke mich bei meinem Operateur für gute Arbeit und er erwidert, der glückliche Ausgang sei dem Umstand geschuldet, dass ich ein guter Patient sei. Wenn nicht glatt gelogen, so ist das doch übertrieben. Aber der kleine Dialog hinterlässt uns beide als Sieger. Wie klug.
Im Wartebereich hängen die Motive einer Imagekampagne an den Wänden. Mein Fach. Und ich staune: wirklich gut gemacht. Die Themen stimmen, der Slogan passt. Glatt getextet, interessant fotografiert, raffiniert gestaltet. Wer so für sich wirbt, kann nicht doof sein. Und das bei dem miefigen Erbe des Sozialismus in dieser Stadt der dreisten Inkompetenz.
Ich habe heute keinen Skandal zu beklagen und keine Idioten zu geißeln. Vom Pförtner bis zum Patrizier alles patent. Das ist das Ende der Literatur, jedenfalls des Journalismus. So kann kein Mensch bloggen!